Eindrücke vom Kolloquium mit der Bundesfraktion von Bündnis90/Die Grünen Februar 2020
Die Pflege stammt geschichtlich aus der Notwendigkeit, bedürftige, erkrankte oder in Not geratenen Teile der eigenen Familie beziehungsweise der unmittelbaren Gesellschaft zu unterstützen und zu versorgen. Die moderne Pflege wird unterteilt in die professionellen Bereiche der Altenpflege sowie Gesundheits- und Krankenpflege, zudem wird viel nicht-berufliche Pflege durch Angehörige geleistet. Die Versorgung findet sowohl in Pflegeeinrichtungen und Krankenhäusern wie auch im eigenen Wohnbereich des Zupflegenden statt. Die Versorgung umfasst sowohl körperliche Aspekte wie auch soziale und psychische Themen, die zum Wohlergehen beitragen können. Die Pflege ist ein zutiefst menschlicher Bereich.
Um die Pflege herum ändert sich die Welt mit scheinbar immer größerer Geschwindigkeit. Ein wichtiger Teil dieser raschen Veränderungen bildet die Digitalisierung, vorangetrieben durch enorme Fortschritte in der Technik der Datenverarbeitung und der Vernetzbarkeit. Die Digitalisierung bringt völlig neue Möglichkeiten der Kommunikation mit sich, unabhängig der tatsächlichen Entfernung, auch eine enorme Vereinfachung des Zuganges zu Daten und Informationen.
So wird die Frage in diesem Kolloquium gestellt: „Digitalisierung und Pflege – wie lässt sich die Zukunft der Pflege gestalten?“ Es kommen viele Hoffnungen auf, unter anderem:
- Kann die Digitalisierung die Dokumentationsmenge verringern oder die Bestellung bei der Apotheke vereinfachen?
- Kann sie die Verzahnung mit anderen Berufsgruppen, zum Beispiel, Ärzten, verbessern?
- Könnte man einen Sturz beim beeinträchtigten Patienten am Rollator durch Messgeräte oder Ganganalyse verhindern?
- Wie könnte Technik für Personen in einer gesundheitlichen Grenzsituation unterstützend wirken?
Als Grundsatz gehen wir davon aus, dass Digitalisierung die Pflege unterstützen, aber nicht ersetzen kann. Bei Gedanken an die „Zukunft der Pflege“ erscheint es wichtig, die Kernwerte der Pflege nochmals vor Augen zu holen. Höchstes Gut sind Vorstellungen von Patientenwohl, -würde und -wohlergehen. Auch der Wunsch des Zupflegenden nach Bezogenheit, Intimität und Selbstbestimmung sind zentrale Aspekte einer zukünftigen Fürsorge. Seitens der Technik soll diese dem Menschen in seiner Teilhabe am öffentlichen Raum dienen. Sie soll möglichst allen zugänglich sein und nicht in der aktuellen sozialen Ungleichheit zu noch größerer Ungleichheit führen. Sie soll nicht zu Ausgrenzung oder Auftrennung führen. Es stellt sich die Frage „Was ist ein gutes Leben?“.
Es blüht aktuell ein Markt für Produkte, die eine Unterstützung, Absicherung oder Beobachtung anbieten wollen. Viele kennen Smartarmbänder oder Uhren mit Herzfrequenzkontrolle oder Messung von weiteren Kreislauf- oder Stoffwechselparametern, ebenso finden Hausnotrufvorrichtungen weite Verbreitung. Die verschiedenen Geräte beziehungsweise Systeme können in die Funktionsbereiche Assistenz im Alltag, Verbesserung der Kommunikation, Frühdiagnose oder Vorbeugung unterteilt werden. Aufgrund des noch recht jungen Marktes haben aber viele Angebote den Charakter einer Insellösung und sind noch nicht konsequent mit dem bestehenden Gesundheitssystem verzahnt, das wiederum weitere zusätzliche Belastungen nicht an allen Stellen gut stemmen kann. Die Produkte und Anwendungsbereiche scheinen aktuell eher den Dynamiken von Startup-Unternehmen beziehungsweise ökonomischen Faktoren zu unterliegen und sind noch nicht Teil eines gesamtheitlichen Gesundheitskonzeptes.
Auf politischer Seite kommen viele, recht komplexe Fragen auf. Auf der einen Seite sieht man neue Chancen und Möglichkeiten, man verspürt die Lust auf Neues, auf der anderen Seite müssen Bedenken und Überlegungen, zum Beispiel, zum Datenschutz ihren Platz finden:
- Wo befinden sich die Grenzen der Digitalisierung?
- Wo befinden sich die Grenzen der Zuständigkeit des Staates und der freien Entscheidungen der Familien oder Pflegebedürftigen?
- Welche Vorgaben braucht man für Hersteller?
- Wie findet man Einklang mit der Vereinbarkeit von Familie und Beruf?
- Wieviel Förderung ist für die Digitalisierung beziehungsweise Ausbildung notwendig?
- Braucht man ein Grundrecht bezüglich des Zuganges zu den Möglichkeiten der Digitalisierung?
- Welche Investitionsmittel müssen für Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen für die Digitalisierung zur Verfügung gestellt werden?
Hierfür ist es stets wichtig den Blick auf den inneren politischen und ethischen Kompass zu halten; wird das Verhältnis „Würde des Menschen“ und „Kosteneffizienz“ korrekt eingehalten? Weitere regionale Unterschiede rücken hierbei ins Blickfeld, Land/Stadt Diskrepanzen in Bezug auf Internetzugang, Personalverfügbarkeit und sonstige Infrastruktur. Wie kann die Zukunft alle betreffen? Und insbesondere aus grüner Sicht, wie wirkt sich die Digitalisierung auf Ressourcen aus? Lässt sich der Stromverbrauch gegen den Papierverbrauch aufwiegen?
Im Rahmen des Kolloquiums fanden mehrere parallel laufende Sitzungen mit verschiedenen Themenschwerpunkten statt, beispielsweise, der Erfahrungsbericht einer universitären IT-Abteilung im Altenheim zum Einsatzversuch eines Roboters. Es folgten Kurzvorträge, die das komplexe Thema „robotische Assistenz“ beleuchteten: Wie kann ein Roboter in der Pflege unterstützen? Wie kann man die Autonomie eines älteren Menschen erweitern mit, zum Beispiel, Stützorthesen, Exoskeletten oder Medikamentenspendern? Mehrheitlich wird diskutiert, dass Unterstützung angeboten werden darf, sie aber auf Freiwilligkeit basiert, man muss sie nicht annehmen. Es erscheint letztlich notwendig, eine feine Balance aus Innovation, der Beteiligung aller Stakeholder und dem passenden regulatorischen Rahmen durch den Gesetzgeber zu finden, ergänzt durch eine regelmäßige Reevaluation der dynamischen Situation.
Eine weitere Sitzung beleuchtete die „Chancen der Digitalisierung in der vernetzten Pflege“. Hier zeigte sich in einer lebhaften Diskussion, dass die Vernetzung in der Pflege noch viel Potential birgt. Gerade in der ambulanten Pflege, oder besser, gemeindenahen Pflege, liegt ein komplexes Kommunikationsnetz bestehend aus, unter anderem, professioneller Pflege, Angehörigen, Transportversorgern, Ärzten, Apotheken und den notwendigen wirtschaftlichen Aspekten vor. Hier zeigen sich große Herausforderungen, unter anderem:
- Wie gestalten wir die Schnittstellen?
- Wie kann Information zugänglich gemacht werden trotz Eigeninteressen?
- Wie können Abrechnungsmodalitäten angepasst werden an moderne Pflegestrukturen unter Berücksichtigung der zuständigen Sozialgesetzbuchversorgungsbereiche?
Es wird deutlich, dass die Bruchlinien zwischen verschiedenen Sozialgesetzbuchversorgungsbereichen sehr relevant sind.
Andererseits zeigt sich anhand eines Berichtes über ein regionales Kompetenzzentrum (rekopflege.de) aus dem Emsland, dass eine Zusammenarbeit von Kostenträgern (DAK), Gesundheitsversorgern (u.a. Universitätsklinikum Osnabrück) und Pflegeeinrichtungen sowie -erbringern eine erfolgreiche, regionale Lösung erzeugen können.
Zusammenfassend geht es um die Zukunft der Pflege insgesamt: Wohin wollen wir und wofür? Die Zukunft muss entlang der Bedürfnisse der Betroffenen gestaltet werden, zuvorderst die Interessen der Zupflegenden unmittelbar gefolgt von den Interessen der Pflegenden. Die Professionelle Pflege befindet sich weiterhin im Mittelpunkt, muss aktiv gestärkt und dauerhaft gefördert werden. Die Pflege braucht eine klare, hörbare Stimme. Es ist für die Zukunft der Pflege essenziell, dass ein Bundespflegekammer einberufen wird. Die Politik muss Rahmenbedingungen schaffen und Förderung dorthin lenken, wo Investition notwendig ist. Eine klar strukturierte Finanzierung für Investitionen als auch für Versorgungen, die mehrere SGB-Versorgungsbereiche betreffen, wird benötigt. Die Zukunft muss mehr Kooperation, Innovation und sektorenübergreifendes Handeln beinhalten, sowie eine eher regionale Struktur unter Beteiligung von mehreren Akteuren aufweisen. Deutliche Ethik-Wegweiser sind und bleiben in einer solch komplexen Situation unerlässlich und müssen stets aufs Neue geeicht werden.
Die Pflege soll zutiefst menschlich bleiben; sie bleibt ein Kernbestandteil unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens. Die Digitalisierung birgt die Möglichkeit der Unterstützung für die Pflegenden wie auch für die Pflegebedürftigen. Der Rahmen hierfür muss aber wohl überlegt und von der Politik gesetzt werden unter besonderer Achtung ethischer Kriterien.
Der zentralen politischen Frage „Woher kommen wir?“ gesellen sich beim Thema Digitalisierung als Quintessenz zwei weitere hinzu: „Wohin wollen wir in der Pflege?“ und „Wofür?“.
( Der obige Text gibt ausschließlich die persönliche Meinung des Autors wieder.)